Migrationsfolgenrecht (Public Law, Migration and the Inbuilt Sedentary Bias)
published in: Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer 76 (2017), 169-216.
49 Pages Posted: 24 Mar 2018 Last revised: 11 Dec 2018
Date Written: April 1, 2017
Abstract
German Abstract: Die Territorialstaaten europäischer Prägung sind im Ausgangspunkt immobil und das öffentliche Recht bildet dies ab. Für Migration besteht ein Leitbild der Sesshaftigkeit, das als normativer Normalfall im Sinn eines „sedentären Bias“ unser Denken lenkt. Die Identifikation des Leitbilds besitzt eine analytische Stoßrichtung, weil die Grundannahme der Sesshaftigkeit tief in die Rechtsfiguren und Strukturprinzipien speziell des deutschen öffentlichen Rechts eingeschrieben ist. Ich wer-de daher übergreifende Aspekte des Migrationsfolgenrechts auf sedentäre Vorannahmen überprüfen und eine Rekonstruktion vorschlagen, die die Perspektive des Grenzübertritts reflektiert.
Sozialstaat: Schließung nach außen und soziale Sicherheit im Inland bedingten sich wechselseitig und tun dies bis heute. Die Gleichheitssemantik des Sozialstaats beruht auf einer eingeschriebenen „Ungleichheitsschwelle.“ In der Gegenwart wird der Blick auf die Ungleichheitsschwelle durch das Territorialitätsprinzip kaschiert, das soziale Leistungsansprüche an den gewöhnlichen Aufenthalt knüpft. Dies lässt die sozialstaatliche Ungleichheitsschwelle nicht verschwinden, verlagert diese jedoch auf das Migrationsrecht, das als Vorposten über den Gebietsverbleib entscheidet, während das Sozialrecht den faktischen Inlandsaufenthalt gleichstellt. Zwingend ist dies nicht. Man kann Territorialität und Sozialrecht auch anders zuordnen.
Rechtliche, politische und kulturelle Zugehörigkeit: In den 1970er-Jahren entwickelte sich in Wissenschaft und Praxis ein Konsens, dass eine Gebietszulassung schrittweise zu Aufenthaltssicherheit und soziökonomischer Gleichstellung führen soll. Es entstand ein hybrider Status, den die Sozialwissenschaft bald als „Denizenship“ bezeichnete; Ausländer erlangten eine Wirtschafts- und Sozialbürgerschaft, nicht jedoch die volle Zugehörigkeit in Form der Bürgerschaft („Citizenship“).In der Gegenwart sind wir weiter. Mit der Staatsangehörigkeitsrechtsreform 1999 und dem Zuwanderungsgesetz 2004 verabschiedete sich der deutsche Gesetzgeber von der Denizenship. Ausländer sollen vollwertige Bürger werden können. Heute ist das Hauptproblem nicht länger die fehlende Teilhabeoption in Form des Wahlrechts und sonstiger Partizipationsrechte, sondern der begrenzte Teilnahmewunsch.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Integration betrifft neben der strukturellen Einbindung in gesellschaftliche Teilbereiche auch die Tiefenschicht des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die wir im Sinn eines sedentären Bias bisweilen als selbstverständlich voraussetzen. Aus der historischen Kontingenz kollektiver Identitätskonstruktionen folgt nicht, dass der Staat als Ordnungsprinzip sowie ein hierauf bezogener sozialer Zusammenhalt irrelevant wären. Dem Grundgesetz ist ein Verfassungsziel der gesellschaftlichen Integration zu entnehmen, das inhaltlich auf Verständigung zielt, ohne eine Gestaltform vorzugeben. In öffentlichen Debatten wird das Grundgesetz häufig als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts beschworen, ganz im Sinn eines Verfassungspatriotismus. Es wäre jedoch ein Fehler, den Verfassungsbezug statisch zu deuten. Es wird näher ausgeführt, wie der Zusammenhalt im Zeichen von Migration erneuert werden kann.
Einwanderung: Der Verfassungspatriotismus erläge einem sedentären Bias, wenn er die interne Öffnung unbesehen nach außen projizierte und annähme, dass die Option einer gleichen Zugehörigkeit eine Einwanderungsfreiheit beinhalte. Migrationssteuerung und Integrationsförderung widersprechen sich nicht. Mit dem liberalen Paradoxon gleichzeitiger Öffnung und Schließung umzugehen, gehört zum Lernprozess für eine Gesellschaft, die das Öffentliche Recht nicht länger auf ein Leitbild der Sesshaftigkeit gründet.
English Abstract: This publication is the manuscript of the well-known and prestigious annual meeting of public law professors from Germany, Austria and Switzerland at the University of Linz in October 2016 – together with a rich collection of footnotes. The title refers to legal rules dealing with the consequences of migration (Migrationsfolgenrecht), i.e. the perspective of domestic legal orders beyond the realms of immigration and asylum law. It argues that the European variant of the nation-state is defined by a ‘sedentary bias’ which permeates public law, since the latter is based upon normative assumptions of sedentary lifestyles underlying legal rules and defining how (German) public lawyers think about and deal with migratory phenomena. It is the objective of the article to show how the sedentary bias works in practice.
The first expression of the sedentary bias is the self-image of the welfare state, which relies on equalising semantics, although it is defined by an inbuilt ‘inequality threshold’ towards non-members. By defining membership on grounds of territorial presence, the welfare state relegates in/exclusion to immigration and asylum law, although that division of labour is called into question when the territorial outside re-enters domestic debates as a result of migration and recent legislative changes.
With regard to legal, political and cultural membership, a widespread consensus developed from the 1970s onwards that territorial presence should gradually – and subject to conditions – result in residence security and socio-economic equal treatment, in line with the hybrid concept of ‘denizenship’. In recent years, the German legal order moved beyond partial denizenship by granting foreigners a conditional option of membership, including political participation. Today’s problem is no longer high hurdles to the acquisition of nationality, but limited desire to move down that road.
Debates about migration often concern debates about ‘social cohesion’ beyond the confines of structural integration into the labour market, the education system, etc. Doing so requires German society to reflect on the normative underpinnings of its self-image, which domestic debates often discuss under reference to the Grundgesetz. Such constitutional patriotism can be defined by a ‘sedentary bias’, when we ignore that the constitution is not static, but is constantly redefined in public debates and court judgments, including in response to migration, such as burqua bans.
A blind spot of the equality- and freedom-based self-understanding of liberal constitutional democracies is immigration, when the collective self-image is framed in universalist terms and can suffer, as a result, from a crisis of self-identification when it comes to the exclusion of non-members. Accepting the inbuilt symmetry of the sedentary constitutional narrative is a precondition for learning how to deal with legal rules on the entry, stay and return of foreigners.
Note: Downloadable document is available in German.
Keywords: Germany, Constitution, Migration, Membership, Citizenship, Human Rights, Territoriality, Sedentary Bias
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